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Der Pandemie-Effekt: Wie jung werden Großmeister:innen?
Roman Shogdzhiev ist eines von vielen Ausnahmetalenten in der Schachwelt. Foto: Maria Emelianova/Chess.com

Der Pandemie-Effekt: Wie jung werden Großmeister:innen?

TarjeiJS
| 0 | Chess.com Nachrichten

Schach ist Zeuge eines faszinierenden Trends. Eine neue Studie von Chess.com zeigt, dass Großmeister:innen ihren Titel heute früher denn je erlangen. Wird die Schachwelt in den nächsten Jahren erleben, dass 10- oder 11-Jährige zu Großmeister:innen werden?

Im letzten Jahr haben wir einen Anstieg von Kindern erlebt, die außergewöhnliche Ergebnisse erzielt haben. Rekorde, die noch vor fünf bis zehn Jahren unschlagbar schienen, sind nicht mehr so bruchsicher, wie wir einst dachten, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder gebrochen werden. "Ein Kinderspiel", wie manche sagen.

Hier sind einige Beispiele:

Jüngste Spieler, die einen Großmeister besiegt haben:

# Jahr Spieler Rating Alter Gegner Rating
1 2024 Ashwath Kaushik 1892 8 Jahre, 6 Monate, 11 Tage Jacek Stopa 2351
2 2024 Leonid Ivanovic 1865 8 Jahre, 11 Monate, 7 Tage Milko Popchev 2193
3 2012 Awonder Liang 1832 9 Jahre, 3 Monate, 20 Tage Larry Kaufman 2406
4 2011 Hetul Shah 1817 9 Jahre, 6 Monate Nurlan Ibrayev 2407
5 2014 Nodirbek Abdusattorov 2057 9 Jahre, 7 Monate, 27 Tage Andrey Zhigalko 2600
6 2022 Aaron Mendes 1970 9 Jahre, 10 Monate, 0 Tage Razvan Preotu 2445
7 2019 Abhimanyu Mishra 2120 9 Jahre, 10 Monate, 28 Tage James Tarjan 2402
8 2024 Reyaansh Chakrabarty 1925 9 Jahre, 11 Monate, 22 Tage Darryl Johansen 2350
9 2023 Faustino Oro 2325 10 Jahre, 0 Monate, 0 Tage Federico Perez Ponsa 2527
10 2017 Marc' Andria Maurizzi 1841 10 Jahre, 1 Monate, 17 Tage Fabien Libiszewski 2542
11 2015 Vincent Keymer 2371 10 Jahre, 2 Monate, 30 Tage Alexandr Karpatchev 2472
12 2023 Sergey Sklokin 1550 10 Jahre, 3 Monate, 20 Tage     Vahe Baghdasaryan 2259
13 2016 Praggnanandhaa R 2339 10 Jahre, 5 Monate, 9 Tage R. R Laxman 2435
14 2018 Bharath Subramaniyam 2196 10 Jahre, 7 Monate, 17 Tage Deepan Chakkravarthy 2531
15 2017 Gukesh D 2236 10 Jahre, 7 Monate, 21 Tage Venkatesh 2439

Die Ergebnisse scheinen Teil eines neuen Trends zu sein, wie eine Untersuchung von Chess.com zeigt, die sich mit dem Alter der Spieler:innen, die sich den Großmeistertitel sichern, beschäftigt.

Während das Durchschnittsalter der Spieler:innen, die den prestigeträchtigsten Titel im Schach erreichen, zwischen 1975 und 1979 bei 30 Jahren lag, sank es zwischen 2020 und 2024 auf 22,8 Jahre. Das höchste Alter für einen neuen GM war 32,8 Jahre im Jahr 1977. Mehr als vier Jahrzehnte später, im Jahr 2021, ist das Durchschnittsalter auf ein Rekordtief von 20,9 Jahren gesunken.

10 Spieler:innen warten derzeit auf die Zusage für den GM-Titel im Jahr 2024. Das Durchschnittsalter ist auf 21,4 Jahre gesunken und damit auf den zweitniedrigsten Stand.

Graph shows how the age of new grandmasters keep dropping over the years.
Das Alter der neuen Großmeister:innen sinkt mit den Jahren immer weiter. Hier wird folgendes dargestellt: In blau, die Anzahl neuer GMs, in grün das Durchschnittsalter der neuen GMs und in grau das Mindestalter der neuen GMs.

Der Pandemie-Effekt

Warum erleben wir dann eine Explosion von noch jüngeren Talenten? Wunderkinder wie Oro, Shogdzhiev, Sivananandan, Ashwath und Ivanovic haben alle etwas gemeinsam: Sie haben während der Pandemie Schach gelernt. GM Hikaru Nakamura findet diesen Trend in einem aktuellen Video über Shogdzhiev "sehr ermutigend zu hören".

"Ich glaube, dass wir das im Laufe der Zeit immer häufiger sehen werden. Viele Kinder kommen auf die IM-, GM- und vielleicht auch auf die höchste Spielebene. Spieler:innen, die während der Pandemie angefangen haben zu spielen", sagt er.

Der ehemalige Weltranglistenvierte GM Peter Leko, der 1992 mit 14 Jahren der jüngste Großmeister aller Zeiten wurde, sagt gegenüber Chess.com, dass dies durchaus Sinn macht.

"Die Technologie entwickelt sich weiter. Der ganze Online-Zugang und der Schachboom während der Pandemie haben stark dazu beigetragen. Diejenigen, die angefangen haben, Schach zu spielen, haben jetzt plötzlich so viele Informationen." 

The ones who started to play chess suddenly now have so much information.

—Peter Leko

8-year-old Ashwath Kaushik from Singapore recently made headlines around the world when becoming the youngest player to ever defeat a grandamster. Photo: Carleton Lim/Singapore Chess Federation.
Der achtjährige Ashwath Kaushik aus Singapur machte kürzlich weltweit Schlagzeilen als jüngster Spieler, der jemals einen Großmeister besiegt hat. Foto: Carleton Lim/Singapurischer Schachverband.

Der ehemalige Herausforderer der Weltmeisterschaft sagt, Schach zu lernen ist wie eine Sprache zu lernen. Je früher du damit anfängst, desto einfacher ist es zu lernen und desto stärker kannst du werden. Und desto mehr natürliches Talent kannst du in dir entwickeln.

"Wenn du deine 20er Jahre erreichst, wird es viel schwieriger, sich weiterzuentwickeln. Wenn du älter wirst, musst du so viel mehr Material aufnehmen. Es ist viel einfacher, damit umzugehen, wenn man jünger ist. Ich sehe den Zusammenhang zwischen der Pandemie und den aufsteigenden Stars in jungen Jahren sehr gut."

Leko zu Mishra: Sehr gute Entwicklung

Seit er eng mit dem deutschen Superstar GM Vincent Keymer zusammengearbeitet hat, hat Leko den Aufstieg der neuen Generation verfolgt.

Er selbst wollte schon im Alter von neun Jahren ein professioneller Spieler werden und studierte das Spiel bis zu 10 Stunden am Tag. "Mein Leben war Schach", sagt er. Er musste zwar nach Kesckemet ziehen, der ungarischen Stadt, die für ihre große Schachgemeinschaft mit internationalen Turnieren bekannt ist, aber dieser Faktor ist für die Entwicklung zum Schachspieler nicht mehr so entscheidend.

Young Leko, left, facing GM (as of 2006) Jurij Tihonov in 1992 at the World Junior Championships. Photo: Wikipedia, CC BY 3.0.
Der junge Leko, links, steht GM (ab 2006) Jurij Tihonov 1992 bei den Juniorenweltmeisterschaften gegenüber. Foto: Wikipedia, CC BY 3.0.

In den 90er Jahren, als Leko heranwuchs und seinem Titel nachjagte, mussten sich die besten Spieler:innen auf die Chess Informants verlassen, eine Zusammenstellung von Spitzenpartien, die alle vier bis sechs Monate erschien. "Du wusstest schon, dass es jeden Tag kommen kann. Dann schlug das Herz schon höher: 'Oh mein Gott, in den nächsten Wochen werde ich tonnenweise Arbeit haben!'"

Jetzt sind diese Züge nur ein paar Mausklicks entfernt, Sekunden nachdem sie auf dem Brett gemacht wurden. "Jedes Talent, das professionell Schachspielen und sein/ihr Schachtalent entwickeln möchte, ist hier an bester Stelle und in der besten Epoche."

Any talent who wishes to be a professional chess player and to develop his chess talent is in the best place and in the best era.

—Peter Leko

Leko erwähnt Chessable, die Online-Plattform, die zu einem wichtigen Werkzeug für die Verbesserung des Schachs geworden ist, als wertvolle Ressource. Sie leben heute in einer, wie er es nennt, "Schachblase", in der Talent, harte Arbeit und das Interesse der Spieler:innen Einfluss darauf haben, ob junge Spieler:innen es an die Spitze schaffen. 

Ein weiterer wichtiger Faktor ist laut dem ehemaligen Wunderkind, dass sie nonstop online gegen Top-Spieler:innen spielen können. "Das ist eines der wichtigsten Dinge. Um dich weiterzuentwickeln, solltest du gegen so viele starke Spieler:innen antreten wie möglich. Es geht nicht um das Ergebnis. Der größte Fehler ist, zu versuchen, Gegner:innen zu finden, die du besiegst. Wenn du nur gewinnst, lernst du nicht. Es ist viel besser, viele Spiele zu verlieren und so die Chance zu bekommen, sich zu verbessern. Das Online-Zeitalter ist dafür wunderbar geeignet. Sensationelles Zeug."

Werden wir noch jüngere Großmeister:innen sehen?

Wie die obige Grafik zeigt, ist auch das Mindestalter für neue Großmeister:innen gesunken. Der jüngste Großmeister der Geschichte ist GM Abhimanyu Mishra, der den Titel 2021 im Alter von 12 Jahren, vier Monaten und 25 Tagen erlangte und damit den Rekord von GM Sergey Karjakin brach, der 19 Jahre lang bestand.

Nur fünf Spieler haben vor ihrem 13. Geburtstag den GM-Titel erreicht. IM Yagiz Kaan Erdogmus, der im Juni 13 Jahre alt wird, ist auf dem besten Weg, mit einer Norm der sechste zu werden. Anfang dieses Jahres erfüllte IM Andy Woodward die Anforderungen für den GM-Titel und wurde im Alter von 13 Jahren und 8 Monaten der zehntjüngste Spieler der Geschichte.

Die jüngsten Großmeister der Welt:

Nr. Spieler Land Alter Jahr
1 Abhimanyu Mishra USA 12 Jahre, 4 Monate, 25 Tage 2021
2 Sergey Karjakin Ukraine 12 Jahre, 7 Monate, 0 Tage 2002
3 Gukesh Dommaraju Indien 12 Jahre, 7 Monate, 17 Tage 2019
4 Javokhir Sindarov Usbekistan 12 Jahre, 10 Monate, 5 Tage 2018
5 Praggnanandhaa Rameshbabu Indien 12 Jahre, 10 Monate, 13 Tage 2018
6 Nodirbek Abdusattorov Usbekistan 13 Jahre, 1 Monate, 11 Tage 2018
7 Parimarjan Negi Indien 13 Jahre, 4 Monate, 22 Tage 2005
8 Magnus Carlsen Norwegen 13 Jahre, 4 Monate, 27 Tage 2004
9 Wei Yi China 13 Jahre, 8 Monate, 23 Tage 2013
10 Andy Woodward USA 13 Jahre, 8 Monate, 28 Tage* 2024

Leko schließt nicht aus, dass angesichts der schnellen Entwicklung junger Kinder heutzutage und als Folge des Booms der Pandemie in der Schachwelt in Zukunft sogar 10- oder 11-Jährige zu Großmeister:innen werden.

Seiner Meinung nach wird jedoch zu viel Wert auf den Titel selbst gelegt, anstatt sich als Spieler:innen weiterzuentwickeln. Das war auch bei Mishra der Fall. "Als Mishra der jüngste Großmeister wurde, hat mich das überhaupt nicht berührt. Es hat mich nicht wirklich interessiert. Denn okay, was soll's? Jeder einzelne Rekord wird gebrochen. Das ist ganz normal."

Every single record will be broken. It's normal.

— Peter Leko

"Aber die Frage, die sich mir stellt und die viel interessanter ist, ist, wie gut er sich danach entwickelt. Der Grund, warum ich von Mishra sehr beeindruckt bin, ist, dass er sich immer weiter verbessert, genau wie ein Supertalent sein sollte. Sein Großmeistertitel ist mir egal, aber jetzt hat er die 2600 überschritten und bewegt sich auf 2650 zu, und das in einem so jungen Alter. Das ist es, was mich beeindruckt."

Peter Leko speaks highly of Abhimanyu Mishra, the world's youngest grandmaster. Who and when will his record be broken? Photo courtesy Swati Hemant Mishra.
Leko spricht in den höchsten Tönen von Mishra, dem jüngsten Großmeister der Welt. Foto mit freundlicher Genehmigung von Swati Hemant Mishra.

Mishra, der im Februar 15 Jahre alt wurde, wird derzeit mit 2627 Punkten bewertet und liegt auf Platz 11 der weltweit besten Spieler:innen unter 20 Jahren.

 Carlsen zu den frühen Prognosen

Die Faszination für Schachwunderkinder geht bis ins 19. Jahrhundert zurück, als Paul Morphy auftauchte, von dem man sagt, dass er Schach lernte, indem er anderen beim Spielen zusah. Das 20. Jahrhundert brachte Legenden wie GM Bobby Fischer und GM Garry Kasparov hervor.

Im 21. Jahrhundert wurde GM Magnus Carlsen schon früh als Schachwunderkind betitelt. Der norwegische Großmeister ist jedoch kritisch gegenüber der Art und Weise, wie die Leute ihm schon früh vorausgesagt haben, dass er ein Weltmeister werden würde. In einem norwegischen Podcast wurde er letztes Jahr gefragt, welche Spieler:innen er als zukünftige Weltmeister sieht.

"Ich bin sehr, sehr skeptisch gegenüber denjenigen, die dachten, dass 13....zunächst einmal denke ich, dass es Unsinn ist, das auf der Grundlage dieses speziellen Spiels gegen Kasparov .... zu sehen."

A 13-year-old Magnus Carlsen shocked the chess world by drawing Garry Kasparov during a rapid game in Reykjavik in 2004. Photo: Prince of Chess documentary.
Der 13-jährige Magnus Carlsen schockierte die Schachwelt mit einem Remis gegen Garri Kasparov in einer Schnellschachpartie in Reykjavik 2004. Foto: Prince of Chess/Øyvind Von Doren Asbjørnsen.

"Ich bin sehr skeptisch gegenüber jedem, der behauptet, dass er früh vorhersagen kann: 'Oh, dieser Typ wird Weltmeister werden'. Wie kann man eigentlich so früh den Unterschied zwischen einem Spieler, der Weltmeister werden kann, und einem Spieler aus den Top 10-20 erkennen?"

"Natürlich wäre man ein Idiot, wenn man nicht erkennen würde, dass ich im Schach talentiert bin. Das hatte ich zu der Zeit eindeutig bewiesen.

How can you actually see the difference between a player who can become world champion and just a top 10-20 player, that early?

—Magnus Carlsen

"Aber es hat etwas damit zu tun, dass Menschen nicht glauben wollen, was sie selbst nicht sehen können. Selbst ich kann das nicht beurteilen. Wenn ich Kinder sehe, müssen noch einige Jahre vergehen, bis ich sehen kann, ob diese Person das Zeug dazu hat, an die Spitze zu kommen", sagte Carlsen, bevor er hinzufügte: "Offensichtlich nicht die Nummer eins!"

Als Beispiel nannte der ehemalige Weltmeister GM Wei Yi, der mit wenigen Monaten vor seinem 16. Geburtstag immer noch der jüngste Spieler ist, der jemals die 2700er-Marke geknackt hat. Der 24-jährige Chinese hat es erst kürzlich zum ersten Mal in die Top-10 der Welt geschafft, nachdem er es als 17-Jähriger fast geschafft hätte.

Leko: Es ist wichtig, die Kinder zu schützen

Leko stimmt seinem ehemaligen Rivalen zu, dass die Leute voreilig dazu neigen, junge Spieler:innen zu hypen. "Es ist absolut richtig, was Magnus sagt. Man sollte nicht zu viel erwarten."

Der Ungar betont, wie wichtig es ist, Geduld zu haben und sich Zeit für die Entwicklung zu nehmen. Andere Faktoren wie Glück und die Unterstützung deines Landes spielen auch eine Rolle dabei, wie weit man kommen kann.

"Wir versuchen, ganz große Stars zu schaffen, aber es ist auch wichtig, die Kinder zu schützen", sagt er, bevor er jungen Spieler:innen einen Rat gibt: "Mach einfach weiter mit dem, was du liebst. Denke nicht, dass du selbst einer wirst, wenn du Großmeister schlägst. Das ist schon sensationell, es ist nur ein Teil der Entwicklung. Jede Art von Entwicklung wird schwierige Momente haben."

We are trying to create very big stars, but it's also important to protect the kids.

—Peter Leko

TarjeiJS
Tarjei J. Svensen

Tarjei Svensen is a Norwegian chess journalist who worked for some of the country's biggest media outlets and appeared on several national TV broadcasts. Between 2015 and 2019, he ran his chess website mattogpatt.no, covering chess news in Norwegian and partly in English.

In 2020, he was hired by Chess24 to cover chess news, eventually moving to Chess.com as a full-time chess journalist in 2023. He is also known for his extensive coverage of chess news on his X/Twitter account.

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